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Ungeahnte Fähigkeiten? Behinderte Menschen zwischen Zuschreibung von Unfähigkeit und Doing Ability

Unexpected abilities? Persons with disabilities between ascriptions of inability and doing ability

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Österreichische Zeitschrift für Soziologie Aims and scope Submit manuscript

Zusammenfassung

Am Beispiel der Differenzkategorie Dis/ability analysiert der Artikel Fähigkeitsorientierung als produktive Machtkonstellation und liefert sowohl der Soziologie als auch den Disability Studies Anregungen für einen erweiterten Blickwinkel. Während der soziologische Diskurs bislang vor allem Fähigkeiten thematisiert, problematisieren die Disability Studies unter dem Stichwort „Ableismus“ sowohl Fähigkeiten als auch Unfähigkeiten; dabei fallen jedoch normative Verengungen und methodologische Selbstreferenzialität auf. Im Anschluss an Michel Foucault wird in dem Aufsatz Dis/ability als komplexes und dynamisches Dispositiv verstanden, in dem Un/Fähigkeiten verhandelt und hergestellt werden. Dabei ist die Kontingenz der Differenzkategorie Dis/ability in Rechnung zu stellen. Auf dieser analytischen Folie wird anhand einer exemplarischen Studie die Werkstatt für behinderte Menschen als Rehabilitationseinrichtung auf den Analyseebenen „Making Dis/ability“ und „Un/doing Dis/ability“ genauer betrachtet.

Abstract

Using the example of dis/ability, this article analyses society’s ability-centeredness as a productive constellation of power, and offers a broader perspective to both general sociology and critical disability studies. While the sociological discourse has primarily concerned itself with abilities, disability studies problematizes, under the keyword “ableism”, the relationship between ability and disability. However, the discussion is often normative, and the methodology self-referential. Drawing on Michel Foucault and his dispositif analysis, this article understands dis/ability as a complex, dynamic and contingent dispositif, in which in/abilities are negotiated and produced. Using this analytical framework, and focussing on the dimensions “making dis/ability” and “un/doing dis/ability”, this article presents the initial results of ongoing research on sheltered workshops as rehabilitative institutions.

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Notes

  1. Der Aufsatz entstand im Kontext des Projekts „Dispositive von ‚dis/ability‘ im gesellschaftlichen Wandel: (Erwerbs‑)Arbeit als biographische Erfahrung und Alltagspraxis im Kontext von (Nicht‑)Behinderung“, das unter der Leitung von Anne Waldschmidt an der Universität zu Köln durchgeführt und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft unter Projektnummer 405662445 gefördert wird. Wir bedanken uns sowohl bei den beiden Herausgebern als auch bei den anonymen Gutachtenden für die hilfreichen Hinweise bei der Erarbeitung dieses Artikels. Außerdem danken wir Simon Ledder für kritisches Gegenlesen. Für alle allenfalls noch vorhandenen Schwächen des Textes sind die Autorinnen verantwortlich.

  2. Im Deutschen werden als weitere Begriffsvarianten auch (Nicht‑)Behinderung oder Nicht/Behinderung benutzt; diese bilden unseres Erachtens jedoch das Wechselverhältnis nur unzureichend ab. Im Unterschied zu anderen Differenzkategorien wie Geschlecht, Ethnizität oder Sexualität, deren Begrifflichkeit jeweils unterschiedliche Ausprägungen (im Falle von „Geschlecht“ z. B. „männlich/weiblich/divers“) subsumieren, existiert bei Behinderung keine entsprechende Oberbezeichnung, um Varianten dieser Unterscheidung zum Ausdruck zu bringen. Zudem bringt im Unterschied zum deutschen (Nicht‑)Behinderung das englische Sprachspiel Dis/ability die hegemoniale Position des „Normalen“ gleichsam en passant zum Vorschein. Aus diesen Gründen bevorzugen wir in diesem Aufsatz die Bezeichnung Dis/ability.

  3. Auch in Österreich und der Schweiz ist das Werkstattsystem etabliert; jedoch können wir im Folgenden nur auf die deutsche Situation eingehen.

  4. Auf Wolbring, der einen eher objektivistischen Ansatz verfolgt und allgemeine Ability Studies zu etablieren versucht, gehen wir nicht näher ein.

  5. Undoing ist nicht gleichzusetzen mit Not Doing. Geht man von der Mehrfachzugehörigkeit von Individuen zu Differenzkategorien aus, ist Not Doing der Normalzustand alltäglicher Praktiken, da immer mehr Kategorien „ruhen“, als gerade zur Aufführung kommen. Hirschauer (2014, S. 183) weist darauf hin, dass im Unterschied zum Undoing, nämlich den „Praktiken des Absehens, der Dethematisierung und Deinstitutionalisierung, die einen klaren empirischen Bezugspunkt haben, den sie negieren, [.] not doing X kein möglicher empirischer Gegenstand [ist]“.

  6. Theoretisch müsste auch das Konzept Undoing Ability vorkommen. Wir können jedoch davon ausgehen, dass Undoing Ability, also ein Ignorieren, Negieren oder Unterlaufen von Fähigkeiten, empirisch nur beobachtet werden kann, wenn zusätzliches Wissen vorhanden ist, d. h. die Ethnografin muss darüber Kenntnis haben, dass in einer gegebenen Situation eine Fähigkeit eigentlich relevant werden müsste, und feststellen können, dass dies nicht geschieht. Für die Untersuchungspraxis ist somit davon auszugehen, dass sich Undoing Ability empirisch zunächst als Doing Inability zeigt. Ähnliches gilt für den theoretischen Fall des Undoing Inability, bei dem es sich um eine doppelte Negation handelt; logischerweise lässt er sich nur als Affirmation, d. h. als Doing Ability beobachten. Auch dieser Fall benötigt Kontextwissen und weiteres „Tun“, um als Undoing zu erscheinen.

  7. Die Kategorie dient uns hier als Beispiel, um die Ko-Konstruktion von Diagnostik und institutionellem Angebot zu illustrieren. Nicht alle Personen, die in einer WfbM beschäftigt sind, gehören dieser Kategorie an.

  8. Davon abgesehen, ist auch der scheinbar „harte“ Wert des Intelligenzquotienten (IQ) hochgradig kontingent. Auf diesen Aspekt können wir im Rahmen des Aufsatzes nicht näher eingehen.

  9. Personen im Förderbereich haben im Unterschied zu denjenigen im Arbeitsbereich den arbeitnehmerähnlichen Rechtsstatus nicht.

  10. Die Feldbesuche fanden im Sommer 2017 statt. Die männliche Fokusperson war in der EDV-Arbeitsgruppe einer WfbM beschäftigt; diese Tätigkeit beinhaltete das Scannen von Dokumenten und Plänen und deren Bearbeitung und Ablage am PC. Die weibliche Fokusperson, die in der „Konfektionierung“ arbeitete, war vor allem mit der Verpackung von Kleinteilen und dem Kleben von Etiketten beschäftigt. Im Werkstattsystem gilt die EDV als eher untypische Beschäftigung, während Konfektionierung und Verpackung eine Domäne vieler WfbM darstellen.

  11. Genaue Zahlen zum Übergang fehlen, denn eine regelmäßige Datenerhebung auf Bundesebene erfolgt nicht (vgl. Deutscher Bundestag 2017, S. 7).

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Karim, S., Waldschmidt, A. Ungeahnte Fähigkeiten? Behinderte Menschen zwischen Zuschreibung von Unfähigkeit und Doing Ability. Österreich Z Soziol 44, 269–288 (2019). https://doi.org/10.1007/s11614-019-00362-3

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